Polyphonia
Vielstimmiger Raumklang mit Projektion in 3D
Der Kammerchor Ettlingen unter Leitung von Ralf Keser und das Vokalensemble Cantus Solis Karlsruhe unter Leitung von Anja Daecke präsentierten in ihrem gemeinsamen Konzertprojekt am Samstag, den 21. Mai 2011 um 19.30 Uhr in der Herz-Jesu-Kirche Ettlingen und am Sonntag, den 22. Mai 2011 um 20.30 Uhr in der katholischen Kirche „Unserer Lieben Frau“ in der Karlsruher Südstadt vielstimmige a cappella Chormusik aus Renaissance, Barock und Moderne. Zudem begleite Bernd Lintermann, Medienkünstler und Leiter des Instituts für Bildmedien am Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe im Rahmen des Karlsruher Konzerts am 22. Mai die großangelegten und selten zu hörenden Vokalwerke mit einer stereoskopischen Bewegtbildprojektion. Hierbei korrespondieren die chorischen Klangerlebnisse mit Projektionen von sich immer neu ausformenden architektonischen Strukturen. Mit Hilfe einer 3D-Brille werden diese räumlich erfahrbar. Das Wechselspiel von Computerbildern und Vokalmusik realisierte Bernd Lintermann bereits u.a. beim diesjährigen Festival of Arts in Hongkong und live im Rahmen des Festivals Zeitfenster Biennale Alter Musik Berlin. Das in Kooperation mit dem ZKM produzierte Karlsruher Konzert bildet die Auftaktveranstaltung des am folgenden Wochenende stattfindenden 3D Beyond-Festivals.
Zentrales Klangwerk ist die 40-stimmige Motette Spem in alium des Renaissance-Komponisten Thomas Tallis (~1505–1585) mit acht im Raum angeordneten fünfstimmigen Chören. Dieses musikarchitektonische Meisterwerk darf als besonderer Programmhöhepunkt gelten. Bei dem Renaissance-Quadrupelkanon Deo gratias von Johannes Ockeghem (~1410–1497), einem bedeutenden Vertreter der franko-flämischen Vokalpolyphonie, setzen nacheinander 36 Stimmen ein. Beide Chorwerke stellen überdurchschnittliche Anforderungen hinsichtlich rhythmischer Präzision und sicherer Gesangsfähigkeit in Einzelstimmen.
Der barocke Raumklang wurde aus einem Wechsel mehrerer räumlich getrennter Chorgruppen erzeugt.Die Vertonung des 51. Psalms Miserere mei, Deus von Gregorio Allegris (1582–1652) lebt vom Alternieren zwischen einstimmig psalmodierenden und mehrstimmigen Versen. Um das Werk des päpstlichen Kapellmeisters ranken sich Legenden: es war allein für die Aufführung in der Sixtinischen Kapelle bestimmt und mit päpstlichem Abschreibeverbot belegt. Mozart soll dieses Musikstück durch bloßes Hören auswendig gelernt und anschließend niedergeschrieben haben. Aus Venedig brachte Heinrich Schütz (1585-1672) die barocke mehrchörige Kompositionsweise in den deutschsprachigen Raum: Psalm 2 Warum toben die Heiden wirkt ausgesprochen lebendig und mitreißend durch seine große Sprachnähe und dem Klangwechsel zwischen zwei Favoritchören.
In Hear my prayer, o Lord entwickeln sich moderne Raum- und Klangwelten: Der schwedische Komponist Sven-David Sandström (*1942) bearbeitete auf faszinierende Weise ein Anthem des englischen Barock-Komponisten Henry Purcell (1659-1695). Nach etwa drei Vierteln der Originalkomposition webt er eigene Klang- und Raumelemente ein, um nach an die Grenze des Singbaren reichenden Dissonanzen im erlösenden C-Dur zu schließen. Auch Dieter Schnebel (*1930) experimentiert mit modernen Klangfarben: Seine Contrapuncti sind Bearbeitungen Bach’scher Fugen aus der Kunst der Fuge, deren ursprünglich lineare Konzeption er ins Räumliche umsetzt, indem er die Ausführenden gestreut im Publikum anordnet.
Chorische Improvisation macht den Reiz von Pierre Calmelets (*1960) Alleluia. Variationen über ein altes Thema aus, das immer neue Klangfarben und Raumeffekte zum Vorschein bringt.
Das populäre Chorwerk Lux aurumque des US-amerikanischen Komponisten Eric Whitacre (*1970) ist vor allem durch ein vom Komponisten initiiertes Video auf der Internetplattform youtube berühmt geworden: Dort erklingt es durch einen virtuellen Chor, zu dem 185 Sänger aus 12 Ländern Aufnahmen ihrer Einzelstimmen einstellten. Beide Kammerchöre präsentieren diesen „Hit live“ mit immerhin 70 Chorsängern und einem Sopransolo.
Im Ettlinger Konzert, eingebunden in den 10. Ettlinger Orgelfrühling,experimentierte Bruno Hamm solistisch an der Orgel mit vielstimmigem Raumklang.